Eine Stadt wird verhört

von David Hare |
Regie: Edith Koerber

England, 1974: Curly, ein junger Mann, kommt in eine Bar in einer wohlhabenden Stadt, um das spurlose Verschwinden seiner Schwester Sarah zu untersuchen. Der klassische Beginn eines Krimis.

Doch Curly ist nicht der coole Privatdetektiv, der moralische Leuchtturm in einer verrohten Welt. Mit einem Vater, der an der Spitze der ökonomischen Nahrungskette steht, wurde Curly hineingeboren in die gnadenlose Welt der Hochfinanz. Dies hat ihn geprägt in einer Weise, die im direkten Gegensatz zum unbedingten Idealismus seiner Schwester steht. Dieser Idealismus ist es, der ihr in der reichen Stadt eine Menge Feinde gemacht hat.

Curlys Ermittlungen führen ihn schließlich in die eigene Familie, zu seinem Vater und ewigem Widersacher. Dieser ist einer der stillen Herrscher der Stadt, ein mächtiger Profiteur des Spekulationssystems. Und er ist der wahre Grund für das Verschwinden von Sarah…

David Hare zeigt allumfassende Korruption, die legalisierte Gewalt des Parketts, kurz »den Kapitalismus in seinem ganzen Zauber und seinem Witz.«, so der Autor ironisch.

Premiere am 10. April 2010.
Die Aufführungsrechte liegen beim Rowohlt Theater Verlag, Reinbek bei Hamburg.

Kritiken

Stuttgarter Zeitung | 11.4.2010

Aufregend aktuell

Das Stück dürfte zu einem Renner werden. Daran hat das Ensemble, allen voran Martin König in der Rolle des Curly, entscheidend Anteil… »Wie hält man ein System aus, von dem man weiß, dass es falsch ist?« Das ist die heute mehr denn je aktuelle Frage hinter David Hares Stück… So viel zur Frage, ob uns dieses englische Stück von 1974 etwas angeht. […]

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Thomas Rothschild
Esslinger Zeitung | 14.4.2010

Brisant und aktuell

»Mit der Finanzkrise erlangte das Theaterstück ›Eine Stadt wird verhört‹ des englischen Dramatikers und Drehbuchautors David Hare eine Aktualität, die im Entstehungsjahr 1974 nicht vorherzusehen war. Tri-bühne-Chefin Edith Koerber brachte nun die brisante Kriminalgeschichte zur Aufführung. Die Welt der Hochfinanz mit ihrem modernen Freibeutertum einerseits und ein Familiendrama andererseits durchdringen einander in dem spannungsgeladenen Stück – einer Tragikomödie im Dürrenmatt‹schen Sinne. Die Tragik besteht nicht zuletzt darin, dass Spekulation und Absahn-Mentalität an der Börse längst auf die zwischenmenschlichen Beziehungen übergegriffen haben. Vertrauen gibt es so gut wie nicht mehr, ja wird zum gefährlichen Risiko auf der Suche nach Liebe. Jedem ist letztlich alles zuzutrauen. So knüpft das Stück auch an die frühen Dramen von Brecht an.

Curly Delafield kehrt nach dem mysteriösen Verschwinden seiner Schwester Sarah in seinen Heimatort und zu seinem Vater Patrick zurück … Martin König spielt den Sohn mit dem Hochdruck eines unausgeglichenen Charakters, der Ratlosigkeit und verletzte Gefühle hinter einer Fassade aus Zynismus und Aggression verbirgt. Melchior Morger als Vater begegnet dem Heimkehrer mit einer abgebrühten Unnahbarkeit, die er sich als Banker und Spekulant angeeignet hat. Gefühle direkt zu äußern, ist so tabu wie der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Als Waffenhändler ist Curly seinem Vater, bei dem er die Schuld an Sarahs Verschwinden sucht, aber moralisch nicht überlegen. Außerdem verhört er Sarahs Freundin Jenny Wilbur, die Cathrin Zellmer zu einer Art unprätentiöser Hoffnungsträgerin macht – sofern angesichts der ewigen Wiederkehr des Gleichen, welche die Drehbühne symbolisiert (Bühnenbild: Stephen Crane), überhaupt von Hoffnung gesprochen werden kann …

Das Ende lässt offen, ob die Wendung zu einer Auflösung der Verstrickung führt. Die Spielregeln des Systems wirken fort – weil die Menschen daran glauben und weil sie nicht bei sich selbst anfangen wollen, etwas zu ändern. Was vordergründig als Sachzwang erscheint, ist nicht zuletzt eine an die ominöse Macht der Verhältnisse abgetretene Handlungsfreiheit. Aber Änderung erforderte Anstrengung. So opfert man lieber seine Ideale und dreht weiter am Rad der Gewohnheit.«

Christine Wawra