Rudimentär

von August Stramm |
Regie: Jean-Paul Raths
(Koproduktion Les Théâtres de la Ville de Luxembourg | Theater tri-bühne)

»Rudimentär« ist ein Kleinod der expressionistischen Dramatik. Personal, Schauplatz und Zeitraum sind überschaubar: eine winzige Berliner Mansarde, eine Frau, ein Mann, ein befreundeter Chauffeur (und Schlafgänger der Wohnung), an einem Sonntagmorgen.

Doch was August Stramm aus diesen Zutaten macht, sucht seinesgleichen. Mit der Urgewalt von abgeschossenen Kanonenkugeln lässt er Charaktere, Emotionen, Situationen und Sprache miteinander kollidieren und erzeugt eine Spannung, die den Zuschauer unwiderstehlich in ihren Bann zieht.

Die Ménage à trois verwandelt die Dachwohnung in kürzester Zeit in ein »Schlachtfeld«, die Munition ist Liebe, Eifersucht und existenzielle Not – wobei der Dialektik des Gashahns (ist er schon auf oder noch zu?) eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommt. Tragik, Absurdität, Gewalt und Komik verzahnen sich in »Rudimentär« auf das Engste, als hätte August Stramm im Sinn gehabt, ein Shakespearesches Drama auf eine Essenz von 20 Seiten zu konzentrieren…

Es ist ein Autor neu zu entdecken bzw. wieder ins Bewusstsein zu rufen: August Stramm gilt als einer der Wegbereiter der deutschen expressionistischen Literatur. Aufgewachsen in der Wilhelminischen Ära, deren Ambivalenz und rasante Urbanisierung frappierend an die Ballungszentren von heute erinnern, kam August Stramm erst recht spät, dafür aber umso sprachgewaltiger, zur Dichtung. Vorher hatte er sich eine klassisch-bürgerliche Existenz im Postdienst aufgebaut. Seine an der Front verfasste Lyrik zählt zur eindringlichsten überhaupt, die im direkten Angesicht des Krieges verfasst worden ist. »Rudimentär« wurde erstmals 1914 in »DER STURM. Wochenschrift für Kultur und Künste« veröffentlicht.

Seinen großen Einfluss auf die expressionistische Dichtung und darüber hinaus (von Kurt Schwitters bis Ernst Jandl) erlebte August Stramm nicht mehr. Direkt mit Kriegsbeginn am 1. August 1914 als Hauptmann der Reserve eingezogen, setzte ein Kopfschuss im September 1915 an der Ostfront seinem Leben ein Ende. August Stramm wurde gerade einmal 41 Jahre alt.

Kritiken

Esslinger Zeitung | 13.3.2013

Exzellent

Die kurzweilige Inszenierung von Jean-Paul Raths setzt in der tri-bühne auf schnellen, präzisen Kampfslapstick, indem auch Metzgermesser durch die Gegend fliegen. Susan Ihlenfeld als Marjell, Nickel Bösenberg als Willi und Pitt Simon als Chauffeur gelingt es exzellent, in der Übertreibung doch auch die Gewalt der Verzweiflung aufscheinen zu lassen. So bleibt dem Publikum immer wieder das Lachen im Halse stecken.

Raths belässt die Handlung im Berlin vor dem Ersten Weltkrieg, wie Bühnenbild und Kostüme von Gitti Scherer deutlich machen. Und am Anfang amüsieren kurze, uralte Stummfilmchen mit grimassierenden Menschen, albern tänzelnden Wilhelminischen Polizisten und Quickies in Oldtimern. Dazu gibt‹s stilecht Klänge vom Stummfilmpianisten Sebastian Huber, der auch nach dem Vorspann das Bühnengeschehen dezent musikalisch untermalt – immer wieder den Schlager »Det is die Berliner Luft« zitierend, was angesichts eines offenen Gashahns doppeldeutige Qualitäten erhält.

Verena Großkreutz
Fränkische Nachrichten | 4.10.2013

Der am glänzendsten geschriebene Einakter des Naturalismus

Den Einakter, wie auch die anderen Dramen des Autors, kennt heute fast niemand mehr. Nicht einmal der Name des 1874 im westfälischen Münster geborenen, 1915 in Russland gefallenen August Stramm sagt heute, über den Kreis von Kennern der deutschen Literatur aus den Jahrzehnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinaus, noch etwas.

Dabei gehörte der Postbeamte… zu den wichtigsten Autoren von Herwarth Waldens Zeitschrift »Der Sturm«, der zwischen 1910 und 1932 erschienenen führenden Publikation des Expressionismus. Und damit ist auch die Bedeutung des Lyrikers August Stramm angesprochen, nicht aber die des Dramatikers.

Der Verdienst ihn wieder ins Bewusstsein gerufen zu haben, kommt dem Stuttgarter Theater tri-bühne zu, das August Stramms… Einakter »Rudimentär« vorstellte. Dabei ist der Titel Programm. Sprachlich dem Expressionismus verwandt, ist »Rudimentär« für René Radizzani, den Herausgeber von Stramms Werk, »der am glänzendsten geschriebene Einakter des Naturalismus«.

Im Zille-Milieu angesiedelt, erzählt August Stramm von Willy, Marjell, deren gemeinsamem Kind und einem Chauffeur, einem sogenannten Schlafgänger, der die Mansarde mitbenutzt. Dabei geht es nicht nur mit deftigen Worten, sondern auch mit schlagkräftigen Taten zur Sache.

Rudimentär ist der Gang der Handlung. Was man mitbekommt, ist der Kampf ums Überleben, bei dem sozusagen jedes Mittel recht ist…

Jean-Paul Raths bedient sich bei seiner Inszenierung der Mittel des naturalistischen Theaters, was die Milieu- und Personencharakterisierung betrifft, wenn er auch zuweilen exzessive Ausbrüche im Spiel nicht ganz unterdrückt. Nickel Bösenberg ist der mit Geschirr um sich werfende, mit dem Beil drohende, seine Frau schlagende Willy ohne Arbeit. Als Marjell leidet Susan Ihlenfeld unter ihm und seinen Exzessen, greift aber ebenso gern wie er zur Schnapsflasche, putzt sich dann aber auch, ganz Frau, heraus, ganz nach dem von ihr verkündeten Motto: »Wir könnten so schön leben«. Obwohl nur Schlafgänger, also eine Art Untermieter, ist Pitt Simon als bärenstarker, hart zupackender Chauffeur der eigentliche Herr im Haus. Nicht unwesentlich zum Erfolg der Aufführung trägt die sogenannte Kampfchoreographie von Klaus Figge bei, die sozusagen Naturalismus und Expressionismus miteinander verbindet.

Dieter Schnabel
woxx.lu Onlinemagazin | 31.10.2012

Hartz (191)4

In August Stramms Stück »Rudimentär« werden menschliche Abgründe geöffnet, die auch heutzutage nicht zu begreifen sind. Auch nach hundert Jahren bleiben die Gesetze der kapitalistischen Schwerkraft unverändert.

Es ist noch kalt auf der Bühne. Die Heizung des Kapuzinertheaters wurde gerade erst vor den Proben hochgefahren, an diesem kalten Montagnachmittag, einem der ersten Tage des Herbstes, an dem man förmlich spüren kann, dass der Winter bald Einzug halten wird. Aber die kalte Luft, die bis in den Zuschauerraum dringt, passt irgendwie zum Ambiente auf der Bühne: Eine spärliche Mansarde mit einem Bett, einem Herd samt Gashahn, ein paar Kleider. Das Stück spielt kurz vor dem ersten Weltkrieg, zu einer Zeit also, als Industrialisierung, Positivismus und Optimismus noch vereinbar schienen. Dass der Ort Berlin ist, muss nicht eigens mitgeteilt werden, denn die Schauspieler berlinern um die Wette, die »Icke« fliegen einem nur so um die Ohren.

In besagter Mansarde lebt ein junges Ehepaar mit seinem Kind. Das Bett muss es sich aber aus Geldnot mit einem Chauffeur teilen, der nachts arbeitet und es tagsüber als »Schlafbursche« nutzt. Das ganze Stück ist eine »ménage à trois«, aber sicherlich keine klassische Komödie -- auch wenn die Inhalte vorhanden wären. Nein, es ist eine Mikroskopie der (un)sozialen Verhältnisse. Dessen, was passiert, wenn Menschen nicht in Elend und Aussichtslosigkeit landen, sondern niemals anderes gekannt haben. Wie dieses Vegetieren aussieht und wie es endet wird, verraten wir an dieser Stelle nicht. Nur so viel: Wer glaubt, Stramms fast hundertjähriger Text müsse veraltet sein, irrt gewaltig. Und wer glaubt, dass »Tiefkühlbabys«, Verwahrlosung ganzer Stadtbezirke, Verrohung der Gesellschaft und aussichtsloses Prekarität Phänomene der Neuzeit sind, irrt ebenfalls. »Rudimentär« ist hochaktuell in dem Sinne, als das Stück zwar einen empathischen Blick auf derartige Verhältnisse wirft, trotzdem aber meilenweit von der Schlagzeilengeilheit unserer übermediatisierten Gesellschaft operiert, da die Boulevardpresse zu Stramms Lebzeiten noch in den Kinderschuhen steckte und Berichte aus den unteren Gesellschaftsschichten noch wirkliche Avantgarde waren…

Alles in allem also ein politisches Theaterstück, das auch den Ansprüchen der hiesigen Bildungsbürger Genüge tut -- was an sich selten genug ist und ein Grund, sich ins Kapuzinertheater zu wagen.

(Anmerkung: Rezension über die Premiere am Luxemburger Kapuzinertheater im November 2012)

Luc Caregari