Das Fräulein Pollinger

Das Fräulein Pollinger

von Traugott Krischke nach Ödön von Horvath |
Regie: Edith Koerber

Die Wilden Zwanziger im schönen München; lebenslustige und volkstümliche Leute, die reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Ein Biergarten, das traute Heim, ein Künstleratelier, ein Ausflug auf’s Land im Cabriolet. Alles in allem eigentlich die Zutaten für zünftiges Volkstheater.

Wenn, ja wenn nicht der Autor Traugott Krischke und der Urheber der Romanvorlage Ödön von Horváth wären, die mit ihrer politischen und satirischen Schärfe jeglichem romantischen Idyll das Wasser abgraben. So erhält der Humor des Stückes einen ausgesprochen säuerlichen Beigeschmack. Überlebenskampf paart sich mit Lebenslust und Geschäft mit Liebe. Und mittendrin stehen die junge Agnes Pollinger und ihre »Karriere« von der Arbeitslosen zur Prostituierten, die um so schneller vonstatten geht, je höher die Männer gestellt sind, mit denen sie es zu tun hat.

Wir wollen dem volkstümlichen Charakter des Stückes Rechnung tragen: Der Theaterraum wird in eine Kneipe verwandelt. Die Zuschauer sitzen an Biertischen und haben während der Vorstellung Gelegenheit, zu essen und zu trinken. Bedient werden sie von den Schauspielern – wenn diese denn nicht gerade auf der Bühne stehen…

Premiere am Freitag, dem 30. April 1999.
Die Aufführungsrechte liegen beim Thomas Sessler Verlag, Wien.

Kritiken

Stuttgarter Zeitung | 4.1.2001

Triumph

Über das Gastspiel in Tallinn:

»Die tri-bühne zeigte das Horváth-Stück ›Fräulein Pollinger‹ – und wurde gefeiert. Die Inszenierung hat nichts von ihrer Frische eingebüßt, sie besticht noch immer durch eine Vielzahl szenischer Einfälle, die sie vor jeder Sentimentalität bewahrt. Neu an dieser stilistisch fein ausbalancierten Arbeit ist allerdings die Titelheldin: Seit November spielt die aus Wien kommende Gunda Schanderer das Fräulein Pollinger, und sie trifft präzise die Horváth-Stimmung, diese ganz spezielle Mischung aus kurzsichtiger Gutgläubigkeit und hellsichtigem Weitblick, aus Naivität und Prophetie, die dem Leidensweg der Agnes Pollinger etwas Irdisch-Überirdisches gibt. Das haben auch die Esten, denen sonst große Zurückhaltung attestiert wird, so gesehen. Sehr kräftiger Beifall – und ein Triumph für die tri-bühne!«

Roland Müller
Stuttgarter Zeitung | 3.5.1999

Bestricktes Publikum

»Bollwieser, Franz Biberkopf und deren Schwestern, das ›kunstseidene Mädchen‹ und Agnes Pollinger sind die namhaften Vertreter eines Heeres von anonymen Figuren, deren Existenz sich zwischen Anständigkeit und moralischem Abgrund hin und her bewegt. Die Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre schuf sich mit ihnen Allegorien der Wirklichkeit, der Wirtschaftskrise, der angestellten Kultur, der Verarmung, deren Werdegang von Augenblick zu Augenblick eine schicksalhafte Wendung nehmen konnte. Dieses Leben hatte genug Dramatik, um zum Gegenstand der Poesie zu werden…

Mit unterhaltsamen Einfällen weiß Edith Koerber ihr Publikum zu bestricken. Besonderen Spaß bereitete das knallrote Traumauto, mit dem Agnes, das verhungerte Opfer der Wirtschaftskrise, seiner beschämenden Existenz als Prostituierte entgegenschaukelt. Der Teilhabe am Schicksal des kleinen Mädchens kann das Publikum nicht entkommen, sitzt es doch im selben Wirtshaus wie dieses, wird von denselben Männern bedient und hat sich, allerdings ganz anders als das arme Mädchen, gesättigt, ehe die Aufführung beginnt. Einmal in dieser, einmal in jener Ecke des Wirtshauses blüht nun eine Szene aus dem Leben des armen Geschöpfs auf.«

Hannelore Schlaffer
Südwestrundfunk | 3.5.1999

Herrliche Bilder

»Nicht jeder dürfte sich trauen, ein ›Volksstück mit Musik‹ zu schreiben, das so nicht von Horváth ist… Krischke darf das, weil er es kann. Und Edith Koerber hat es mit einem vor Spiellaune sprühenden Ensemble horváthgemäß inszeniert: lebenslustig, sarkastisch, verbittert, volkstümlich und kunstvoll, pfiffig die Schauplätze rund ums vergnügte Publikum verteilend. Es beginnt auf einer Parkbank, dem klassischen Ort der Annäherung. Schüchtern arbeitet sich Robert Atzlinger über die Zeitungslektüre ans Knie und schließlich an die Bluse der Tatjana Bogucz heran. Das scheue Wollen und geschamige Sich-Zieren der beiden war mehr als gut genug für die Eheanbahnung, aber das Leben ist nicht gerecht – wir wiederholen uns.

Der Herr Kastner kommt dazwischen, Mit-Untermieter in der verwanzten Wohnung der Tante des Fräulein Pollinger. Günther Seywirth schleimt sich brillant larmoyant und eklig selbstlos an sie heran, vermittelt sie als Nacktmodell an einen Maler (Günther Arnulf), wo sie nicht zufällig dem selbstgefällig blöden Rennfahrer Harry (Wilhelm Schneck) begegnet, von dem sie nach einem gierig verschlungenen Schnitzel und fünf Mark für eine Auto-Nummer beim aasigen Strizzi Fredy (Marcus Michalski) landet. Agnes Pollinger unaufhaltsamer Abstieg zu ›so einer‹, die kein Eugen Reithofer mehr heiraten kann.

Edith Koerber hat herrliche Bilder gefunden – Pollingers Pose auf der Malerliege, die schütternde Fahrt im knallroten Cabrio – die Jungs kellnern und singen wie die Comedian Harmonists, da bleibt bei aller Tragik kein Auge trocken.

Kann so viel Witz und Trauer auch noch politisch sein? ›Ich lese nur den Lokalteil‹, sagt Eugen Reithofer auf der Parkbank, ›Politik interessiert mich nicht‹. Voilà. – Begeisterter Beifall.«

Winfried Roesner
Stuttgarter Nachrichten | 3.5.1999

Großartiges Ensemble

»Mit feinem Gespür für Zwischentöne und mit dem richtigen Maß an komödiantischer Überzeichnung hat Edith Koerber ein Kaleidoskop des allzu Menschlichen geschaffen. Klug bringt sie ihr großartiges Ensemble zum Einsatz und kommentiert mit fairer Ironie die einzelnen Schritte der Hauptfigur, indem sie den Blick über jene schweifen läßt, die sie bestimmen: Robert Atzlinger, Günther Seywirth, Günther Arnulf, Wilhelm Schneck und Marcus Michalski, die im Lauf des rasanten Abends kurzerhand ihre Kellnerschürzen fallen lassen, um als erotisierte Schürzenjäger das wüste Geschehen rund ums Fräulein Pollinger voranzutreiben.

Das hat Pfiff und brachte am Premierenabend das Publikum zum Kochen. Daß dennoch nachdenkliche Töne zu vernehmen waren, der Schluß gar mit einer selbst entwickelten und durchaus sinnstiftenden Horváth-Pointe aufwartete, unterstreicht den hohen künstlerischen Anspruch dieser gelungenen Inszenierung.«

Hanna Mainzer
Cannstatter Zeitung | 3.5.1999

Dralles Schauspielertheater

»Regie führte Theaterchefin Edith Koerber, die aus der beißend ironischen Szenencollage des Schriftstellers und Horváth-Forschers Krischke ein dralles Stück Schauspielertheater mit großartigen Gesangseinlagen machte…

Die Zuschauer sitzen an Biertischen, durch die sich die Schauspieler als rasante Kellner ihre Wege bahnen, zischende Humpen, Viertele oder dampfende Würstchen servieren…

Im Mittelpunkt steht eine unscheinbar wirkende junge Frau, die in einer Art Stationendrama all ihre Ideale verliert. Denn je ›höher‹ die gesellschaftlichen Kreise werden, in die sie dank zwielichtiger Arbeitsvermittlung geht, desto tiefer sinkt ihr Selbstwertgefühl… Tatjana Bogucz spielt die Titelrolle mit derselben einfühlsamen Präzision, die auch die Regie bei ihrem schwierigen Balanceakt an den Tag legt…

So entsteht Erstaunliches: ein einfühlsames, intelligent arrangiertes Komödienspektakel, bei dem sich jeder der brillanten ›Kneipendiener‹ auch als selbstverständlicher Konsument zweifelhafter ›Liebesdienste‹ erweist…

Ein gelungener und anspruchsvoller Theaterabend, bei dem weitere Fragen durchaus erwünscht zu sein scheinen. Bei einer Leichtigkeit, die man so schnell nicht vergißt.«

Helga Stöhr-Strauch