Else

Else

von Motti Lerner |
Regie: Miriam Goldschmidt

Zu Beginn des II. Weltkriegs trifft die deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler in Jerusalem ein. Sie hatte in Berlin einen Schlag mit einer Eisenstange auf den Kopf bekommen, und das hat sie sozusagen schlagartig über das Wesen des nationalsozialistischen Regimes aufgeklärt. Nun ist sie endlich im gelobten Land und trägt einen herzlichen Willkommensgruß des Bürgermeisters von Jerusalem in der Tasche. Was kann da noch schiefgehen? Um die Antwort vorwegzunehmen: alles. Die hochtalentierte, eine wenig exzentrische Dichterin läßt sich weder politisch noch dichterisch vermarkten. Ihre Kompromißlosigkeit ist zwar Voraussetzung ihrer dichterischen Kraft, aber mehr als ungesund, was ihr Überleben anbetrifft: Die Gesellschaft fällt die Höchststrafe, die sie einem Individuum gegenüber verhängen kann – die Ignoranz.

»Else« ist ein tragisches Stück voller Humor und Komödiantik. Es beinhaltet auch eine höchst lächerliche Liebesgeschichte mit Werner, einem Literaturkritiker, der seinen Lebensunterhalt als untalentierter Handelsvertreter bestreitet und von einer Professur an der Universität träumt. Die beiden – Else und Werner – sind der typische Fall für eine Beziehung, die wir alle kennen: miteinander geht’s nicht, ohne einander erst recht nicht.

Deutschsprachige Erstaufführung am Donnerstag, dem 29. September 1994.
Die Aufführungsrechte liegen beim Litag Verlag, Bremen.

Kritiken

Esslinger Zeitung | 1.10.1994

Brillanter Auftakt

»Mit Motti Lerners ›Else‹ ist dem Ensemble der tri-bühne ein brillanter Auftakt zum zweiten Stuttgarter Europa Theater Treffen (SETT) gelungen… Miriam Goldschmidt inszenierte… das exzentrische, ruhelose Leben vom ›schwarzen Schwan Israels‹ als beeindruckendes Alters-Porträt einer bewundernswerten Frau, der aller Respekt gebührt…

Tri-bühne-Chefin Edith Koerber ist die Frau, deren Dichtkunst ein Verehrer einst als ›schwarzen Diamanten‹ bezeichnete, ›der in die Stirn schneidet und weh tut‹. Koerber spielt nicht, sie ist ›Frau Schüler‹, die kindlich strahlende, die wegen ihrer unberechenbaren Ausbrüche gefürchtete, immer unbeugsame Poetin, deren Welt mit einem Schlag entzwei gegangen ist… Liebe, Enttäuschung und Hoffnung… setzt Edith Koerber mühelos um, und Bihler fängt den Emotionsschwall kraftvoll auf, eingebettet in eine klare Inszenierung.

Auf ihrer puristischen Bühne hat Miriam Goldschmidt nur die beiden starken Schauspieler und Dietrich Lutz am Klavier und Ikuko Nishida mit der Violine, die mit ›Neuer Musik‹ eine eigenartig verzauberte, aber keine klebrige Stimmung erzeugen. So phantasieüberfrachtet Lasker-Schülers Gedankenwelt ist, so wohltuend nüchtern ist die Inszenierung.«

Petra Bail
Stuttgarter Nachrichten | 1.10.1994

Glänzend charakterisiert

»Zwei glänzend charakterisierte Figuren in optimaler Besetzung. Edith Koerber, wie für Else geschaffen, in Höchstform: balancierend zwischen echter und gespielter Naivität, versponnen, sprunghaft, verwirrt, exotisch bis exzentrisch, in rasant wechselnder Mimik und Gestik sehr genau… Urs Bihler als Literaturkritiker und Parfümverkäufer, hilflos gegenüber dem Wirbelwind ihrer herrlichen Vorstellungen, vorsichtig, um Anpassung bemüht, dabei allerdings auch ein Träumer. Sie sind wie zwei Waagschalen, mal in weit voneinander entfernten erdnahen und himmelhohen Dimensionen, mal in heiterem Gleichgewicht, wenn sie in Erinnerung und Phantasie verschwinden.

An diesem bemerkenswerten Theaterabend gab es herrlich komödiantische Szenen… und filigrane Bilder…, die sich eingeprägt haben. Hohe Qualität – auch bei den Musikern Dietrich Lutz (Klavier) und Ikuko Nishida (Violine) – bei sympathischen Verzicht auf großen Aufwand.«

Gisela Ullrich
Stuttgarter Zeitung | 1.10.1994

Atmosphärische Dichte, wie man sie nur selten findet

»Unter der Regie von Miriam Goldschmidt, von Dietrich Lutz (Klavier) und Ikuko Nishida (Violine) immer dann unterstützt, wenn Worte versagen, verleihen Edith Koerber und Urs Bihler der Geschichte des nur mühsam überlebenden Emigrantenpaares Else und Werner eine atmosphärische Dichte und eine anrührende Menschlichkeit, wie man sie nur sehr selten findet…

Edith Koerber, bunt gekleidet wie ein expressionistischer Papagei, schafft es, den grandiosen Wirklichkeitsverlust Elses in den Gewinn einer Gegenwelt umzuwandeln, einer Welt, in der Wörter heilig, göttlich sind – unverletzbar durch Übersetzer oder Nazi-Barbaren. Wie tragikomisch sich die Künstler selbst überschätzen, scheint… jeder ihrer Blicke zu sagen…

Am tragikomischsten aber gibt Urs Bihler den Philologen Werner – weil er (noch) in beiden Welten lebt und dementsprechend doppelt leidet… Hautnah dabeizusein, ohne Opernglas, wie Bihler um die Mundwinkel zusammenzuckt, nervös hüstelt und doch zu Else hält, weil ihm lange, lange keine Peinlichkeit zuviel ist der verehrten Dichterin zuliebe, das ist der schönste Beweis dafür, warum Stuttgart neben dem Großen Haus auch Kleintheater braucht…«

Joachim Auch
Westdeutsche Zeitung | 30.9.1994

Unüberbietbare Intensität

»›Else‹ lebt an der Grenze zwischen Exzentrik und Wahn. Mit aufgerissenen Augen starrt sie ins Publikum, in kindlicher Naivität sagt sie, was ihr einfällt, und das empfindet ihre Umgebung stets als unpassend. Ihre bunten Schals, Ketten und Mäntel wollen zudem nicht in das Bild einer alternden Dichterin passen. Anders als ihr Partner, der angepaßte und ebenso einsame Kulturkritiker Werner, der insgeheim auf eine Dozentenstelle spekuliert, setzt Else ihre eigene Welt gegen die ›reale‹…

Die Aufführung hat eine schier unüberbietbare Intensität – und kommt ohne alle Effekte aus. Koerber und Bihler agieren auf leerer Bühne, mit nichts als zwei braunen Pappkoffern und einer grünen Kiste. Lerner kritisiert dabei sein Vaterland: Als Juden in Deutschland vertrieben, werden beide in Israel als Deutsche gemieden. Innere Einsamkeit erfährt im sozialen Raum eine Verdoppelung: Exil ohne Ende.«

dpa