Die Möwe

von Anton Tschechow |
Regie: Gábor Zsámbéki

Ein Landgut tief in der russischen Provinz ist der Schauplatz dieser Geschichte, die vom großen Scheitern erzählt – von gescheiterten Beziehungen, von gescheiterten Professionen, vom gescheiterten Leben überhaupt. Der junge Schriftsteller Trepljow lebt im Hause seiner ebenso geizigen wie egozentrischen Mutter Arkadina, einer berühmten Schauspielerin. Er verliebt sich unrettbar in die junge Schauspielerin Nina, die sich ihrerseits jedoch in den ebenso populären wie desillusionierten Schriftsteller Trigorin verliebt. Daß sich auch Arkadina Trigorin als »Objekt ihrer Begierde« auserkoren hat, macht die Wirrnis komplett. Für allerhand emotionalen Zündstoff ist also gesorgt.

Um diese Personen herum gruppieren sich die anderen Figuren der ›Möwe‹, die alle, außer der Unfähigkeit, eine stabile Beziehung aufzubauen, noch etwas gemeinsam haben: ihre tiefe Sehnsucht nach der Kunst, die – scheinbar – ein glücklicheres und erfüllteres Leben ermöglicht.

Doch Tschechow hat mit seiner »Möwe« nicht nur eine Tragödie geschrieben: der unerfüllte Liebesreigen fast aller seiner Protagonisten – Frau liebt Mann, der eine andere Frau liebt, die wiederum einen anderen Mann liebt – läßt groteskkomische Situationen entstehen, die den Untertitel »Komödie in vier Akten« rechtfertigen.

Premiere am 15. Februar 1996.
Die Aufführungsrechte liegen beim Verlag der Autoren, Frankfurt/Main.

Kritiken

KULTUR | 1.4.1996

Ein starkes Ensemble

»Mit bemerkenswerter Handschrift setzte Gábor Zsámbéki dieses tiefe Mitleid, das viel mehr ist als Resignation oder exotische Russenmelancholie, in Szene. Sein Stückkommentar ist nur begleitendes Beiwerk; eine Art Melodie, die das ganze Stück leitmotivisch durchzieht: Sei es die liebevolle Umarmung, mit der Dorn die unglückliche Mascha vom ersten zum zweiten Akt festhält, so daß diese ihren Lebenskummer mit in eine freudlose Zukunft nimmt, oder sei es der innige Kuß, mit dem Nina ihr unglückseliges Verhältnis zu Trigorin vom dritten zum vierten Akt besiegelt: Immer scheint eine ordnende Hand die Figuren zu ihren nächsten Positionen zu schicken. Im Bewußtsein, daß ihr Schicksal dank textlicher Vorgabe nun einmal psychologisch vorbestimmt ist.

Es gehört schon ein genauer Blick und eine ganze Menge an Menschenkenntnis dazu, einen solchen Brocken glaubhaft auf die Bühne zu bringen. Und ein starkes Ensemble, das im Falle der ›Möwe‹ dem literarischen Federtier alle Ehre antut: Graziös gegen den Wind ansegelnd und nie in Gefahr, in den zweifellos vorhandenen Turbulenzen dieser Pseudokomödie abzustürzen, vermittelt es das, was die Jungen im Stück nie erreicht haben: Ein Stück Freiheit, das dem laut Tschechow notwendig zur Kunst gehörenden Leiden den bitteren Geschmack nimmt.«

Helga Stöhr-Strauch
Stuttgarter Wochenblatt | 7.3.1996

Sehenswert!

»Seit Jahren unterhält das Theater tri-bühne in Stuttgart freundschaftliche Beziehungen zu dem Budapester József-Katona-Theater. Und so inszeniert denn auch immer wieder einmal Gábor Zsámbéki, der inzwischen 53jährige Direktor dieses Theaters, das zu den führenden Schauspielbühnen Ungarns gehört, in Stuttgart.

Diesmal nahm er sich der russischen Komödie «Die Möwe» an – und das Ergebnis, wie ein Ungar Tschechow inszeniert, ist sehenswert!…

Dem Regisseur kam es darauf an, die Charaktere der handelnden Personen differenziert herauszuarbeiten und so zu zeigen, daß zumindest die innere Handlung von Tschechows «Möwe» weder zeit- noch ortsgebunden ist, sondern daß die Spannungen zwischen den Menschen gestern, heute und morgen überall auftreten können, wenn Vertreter der verschiedenen Temperamente und Klassen zusammentreffen.

Und so gelang es den Schauspielern, ihre Rollen mit psychologischem Gespür eindrucksvoll zu charakterisieren und das Spannungsfeld zwischen den einzelnen Handlungsträgern sichtbar zu machen.

Edith Koerber als Arkadina war der Prototyp der selbstgefälligen, selbstbewußten, unzufriedenen, alternden Frau in den sogenannten besten Jahren. Ihr Liebhaber Trigorin war allerdings in der Gestalt von Urs Bihler kein jüngerer Mann, sondern ein reiferer, der seinerseits Augen für eine Jüngere hatte, nämlich für die «Möwe» Nina, die idealistisch gesinnte, am Anfang ein wenig naive, dann durch Schicksalsschläge gereifte Gutsbesitzerstochter der Hannelore Bähr.

Wilhelm Schneck als Trepljow war der nach neuen Formen in der Literatur und nach Erfüllung in der Liebe suchende, expressiv-exzentrische Stürmer und Dränger. Zwei überzeugende Charakterzeichnungen lieferten Stephan Korves als pensionierter Jurist Sorin und Günther Seywirth als umgänglicher Arzt Sorin ab…«

Dieter Schnabel
Stuttgarter Nachrichten | 17.2.1996

Ein sehenswerter Liebesreigen der Vergeblichkeiten

»So ist das Stück 100 Jahre nach seiner Entstehung weiter aktuell: Eine junge Generation, der dank hartnäckig verteidigter Pfründe der Zugriff auf ideelle und handfeste Güter verwehrt bleibt, steht einer Elterngeneration gegenüber, die sich in Autorität, Resignation und melancholische Scheinwelten zurückzieht. Gleichwohl siedelte der ungarische Regisseur Gábor Zsámbéki in der tri-bühne das Stück im Rußland der Jahrhundertwende an. Im stimmungsvollen Bühnenbild Csörsz Khells und in Kostümen, die den Liebreiz eines langen Bilderbuchsommers dokumentieren (Györgyi Szakácz), formieren sich die Akteure zu einem Liebesreigen, der zum unfairen Marathontanz wird. ›Routine‹ lautet das Zauberwort. Wer keinen langen Atem hat, oder wer gar auf den Flügeln der Phantasie zu weit hinausflattert, den trifft der Blattschuß. Wie die Möwe, die als beziehungsreiches Symbol auf die junge Schauspielerin Nina (Hannelore Bähr) gemünzt, im Grunde auf alle Figuren zutrifft, die nach Zuwendung, geistiger Freiheit und Selbstachtung dürsten.

Zsámbéki las zwischen den Zeilen und setzte mit bemerkenswerter Handschrift ein Stück in Szene, das dank eines homogenen Ensembles mit vielen schauspielerischen Höhepunkten aufwartet. Dabei erzählt jede Figur ihre eigene Geschichte. Und was sich bei der Lektüre als Lokalkolorit geriert, gewinnt in Zsámbékis Lesart ganz neue Dimensionen: Ein pöbelnder Gutsverwalter (Cornelius Dane), der mit unnachgiebiger Strenge Frau (Yvonne Schramm), Tochter und Schwiegersohn (Achim Grauer) kleinhält, und ein alter Greis (Stephan Korves), dessen unwürdige Komik sich aus sprachlichen Fehlleistungen, verpatzten Lebensplänen und unbändigem Lebensdurst speist, können kaum glaubwürdige Lebensmaxime vermitteln. So ist das Leid des jungen Intellektuellen Kostja (Wilhelm Schneck) nicht auf nebulöse Melancholieanwandlungen zurückzuführen, sondern auf handfeste finanzielle Abhängigkeiten.

Insgesamt eine runde Inszenierung-mit beeindruckenden Einzelleistungen. Allen voran Urs Bihler als eleganter Erfolgsschriftsteller Trigorin und Edith Koerber als egozentrisch-zerrissene Schauspielerin Irina Nikoajewna.«

Hanna Mainzer
Süddeutscher Rundfunk | 16.2.1996

Ein großer Abend

»›In einem Theaterstück, finde ich, muß unbedingt Liebe vorkommen‹, sagt das junge Mädchen Nina. Wie recht ihr Tschechow gibt! In seinem Stück lieben fast alle: der junge Dichter Konstantin leibt Nina; seine Mutter, die große Schauspielerin Arkadina, liebt den Schriftsteller Trigorin; ein armer Lehrer liebt die Verwaltersochter Mascha, ihre Mutter liebt den Arzt Dorn… Und alle ihre Liebe geht ins Leere, trifft die Falschen und läßt die Richtigen in unerfüllter Sehnsucht sitzen. Alle lieben und leiden, und keiner weiß, für wen er oder sie ›Richtig‹, am rechten Fleck des Herzens wäre. Eine Komödie…

Gábor Zsámbéki kann Schauspieler führen, daß sie ihre Seelen sichtbar tragen: Bei dem großen Trigorin gelingt ihm das: Urs Bihler spielt ihn, verkniffen, Sahne schleckend, ohne Blick für die Poesie des Sees, nur für die Fische, die er angeln könnte, wenn man ihn nicht dauernd wegen seiner Berühmtheit anhimmeln würde. Ein Schriftsteller, der alles notiert, weil er es mal brauchen könnte. Ein Buchhalter des Lebens-eine kleine Seele… Großartig ist Günther Seywirth als Arzt. Er sieht nicht nur aus wie Tschechow, er spielt, hinter einem Hauch von Zynismus, den Autor in seinem Stück: Mitlachend, mitleidend und anders als Nina es gemeint hat: mit unbedingter Liebe.

Unglaublich fast die Steigerung, die Zsámbéki noch einmal zu Schluß gelingt: Wilhelm Schneck und Hannelore Bähr sind bis auf den Grund verwandelt. Aus dem aufmüpfigen Jungen, aus dem naiv-begeisterten Mädchen sind zwei Erwachsene geworden, denen der Schmerz ins Gesicht geschrieben steht… Eine Komödie? Ja. Unter Tränen. Ein großer Abend in der tri-bühne.«

Winfried Roesner