Das Geschöpf

Das Geschöpf

Eine Parabel
von Géza Révay |
Regie: Edith Koerber

Der absolut gesetzestreue Staatsbürger Albert Richwick, Besitzer eines Landgutes in der englischen Provinz, findet eines Abends – während einer Fuchsjagd im nahen Wald – im Gebüsch vor seinem Haus eine schöne, aber nackte Frau, die zudem Spuren von Gewaltanwendung an ihrem Körper aufweist. Weil die Frau nicht nur auffallend schön, sondern auch noch auffallend ohnmächtig ist, muß Albert Richwick handeln, und zwar rasch. Kann er, mit der Frau auf dem Arm, bei der Familie seines Hausverwalters anklopfen und sie um warme Kleider und um einen heißen Tee bitten? Schon, wenn er Zustand und Identität der delikaten »Fundsache« glaubhaft erklären könnte. Da er das nicht einmal ansatzweise kann, schmuggelt er sie in seine Wohnung. Und da beginnen seine haarsträubenden Abenteuer mit der »Füchsin«.

Der Tod einer Füchsin am Ende einer Hetzjagd ist die Geburt eines Menschen. Eine Verwandlung? Ein Wunder? Möglicherweise. Vielleicht handelt es sich auch nur um einen Zufall: eine fast schon zu Tode gehetzte Füchsin entkommt und an ihrer Stelle wird eine Frau, eine Art weiblicher Caspar Hauser, gefunden.

Aber dieser märchenhafter Anfang ist nicht das eigentliche Thema des Stückes. Das Thema ist die menschliche Evolution, die ihre komischen und dramatischen Seiten hat und die Frage aufwirft, ob sie nicht in einer Tragödie endet. Die Entwicklung einer schönen Frau vom Tier zum Homo Sapiens ist eine gute Gelegenheit zu verfolgen: wo hört die animalische Existenz auf und wo beginnt der Mensch? Die wichtigste Frage kann aber nur der Zuschauer beantworten: Lohnt es sich? In Kenntnis unserer Vergangenheit und Gegenwart, in Ahnung unserer Zukunft: Können wir einem Tier empfehlen, Mensch zu werden?

Uraufführung am Freitag, dem 17. Januar 1997.

Kritiken

Esslinger Zeitung | 21.1.1997

Vollendet komödiantisch

»Eine Füchsin verwandelt sich am Ende einer Treibjagd zum Menschen, lernt die menschlichen Gesetze, erwirbt menschliche Fähigkeiten und – scheitert. Aus der Idee des französischen Romanciers Jean Bruller entwickelte Géza Révay sein erstes Theaterstück ›Das Geschöpf‹. Unter der Regie von Edith Koerber kam es in der Stuttgarter tri-bühne zur Uraufführung und stieß nicht nur wegen seines ungewöhnlichen Themas, sondern auch wegen einer Starbesetzung auf großes Interesse.

Birgit Keil, die einstige Primaballerina in Stuttgart, gab in der Titelrolle ihr Schauspieldebüt und überzeugte nicht weniger als Dorothea Baltzer, Edith Koerber, Achim Grauer, Günther Seywirth und Marcus Michalski…

Was ist der Mensch und wozu ist er fähig? Ist er wirklich die ›Krone der Schöpfung‹ oder rangiert er mit seiner Zerstörungsfähigkeit nicht auf der untersten Stufe der Evolution? Révay wirft elementare Fragen auf. Koerber vollendet komödiantisch arbeitende Inszenierung hingegen drosselt die abgrundtiefe Verzweiflung, die sich in ihnen offenbart.«

Helga Stöhr-Strauch
Schwarzwälder Bote | 20.1.1997

Großer Beifall

»Wenn sich ein Tanzstar schauspielerisch versucht, strömen Massen ins Theater. Nicht anders war es in Stuttgart: Birgit Keil, bis vor kurzem Ballerina Nummer eins am berühmten Ballett, stellte sich erstmals als Schauspielerin dem Votum des Publikums. Die Rolle allerdings war ihr auf den anmutigen Leib geschrieben worden: Keil war ›Das Geschöpf‹, das – erdacht von Géza Révay – im Stuttgarter Theater tri-bühne uraufgeführt wurde…

Das Geschöpf auf seinem Weg von der grunzenden, sprachlosen Kreatur zum bewußten menschlichen Dasein ist in der Tat eine ideale Rolle für Keil. Die große Dame des Tanzes erweist sich dabei als Multitalent – mit gutem Gespür für animalische Posen und beachtlichen komödiantischen Fähigkeiten. Die große Beifall des Publikums galt mit Recht aber auch den darstellerischen Leistungen der Profiakteure – vor allem Achim Grauer als Albert und Dorothea Baltzer als Dorothy.«

Susanne Gilbert-Sättele
Südkurier | 20.1.1997

Geglückte Mischung

»Obwohl ›Die Autorin‹, die als Erzählerin am Rande der Bühne an einem Tischchen Platz genommen hat und auch… zuweilen als Moderatorin fungiert, gleich zu Beginn zu Albert Richwick sagt: ›Wir haben uns geeinigt, daß wir nicht philosophieren wollen‹, wird in dem ganzen Stück das Gegenteil praktiziert. Géza Révay nimmt nämlich… die Geschichte von der Füchsin, die sich in eine Frau verwandelt, zum Anlaß, um über das Mensch- und Tiersein zu philosophieren. Und da fällt denn auch der Satz: ›Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das zum Faschismus fähig ist.‹…

In diesem Rahmen inszenierte Edith Koerber die Parabel als eine geglückte Mischung aus märchenhaftem und realistischem Theater… Sylva, die Füchsin als Mensch, die dem Stück den Titel ›Das Geschöpf‹ gegeben hat, verkörperte Birgit Keil.

Das sie diese Rolle spielte, das wäre zu wenig gesagt. Denn sie versetzte sich ganz in ihre Aufgabe, einerseits noch Tier zu sein, und andererseits Mensch zu werden. Das zeigte sich nicht zuletzt an dem Bewegungsvokabular, dessen sie sich bediente, wobei ihr in diesem Fall ihre Vergangenheit als Tänzerin zugute kam.

Als der sich der Füchsin annehmende Albert Richwick interpretierte Achim Grauer seine Rolle mit großem Einfühlungs- und starkem Ausdrucksvermögen. Dorothea Baltzer gefiel als in sich zerrissene Dorothy Sullivan ebenso wie Günther Seywirth als skurriler Reverend Sullivan und Marcus Michalski als jungenhafter Bancroft. Edith Koerber war ›Die Autorin‹.«

Dieter Schnabel
Stuttgarter Nachrichten | 20.1.1997

Frappierende Leichtigkeit

»Géza Révay… versucht in seinem anspruchsvollen Erstlingswerk ›Das Geschöpf‹ eine Bestandsaufnahme. In Form einer Parabel erzählt er die Geschichte eines Geschöpfs, das am Ende einer Treibjagd einen symbolträchtigen Entwicklungsschritt durchmißt: Eine Füchsin wird Mensch und überdies von Albert Richwick (Achim Grauer), Besitzer eines Landgutes in einer englischen Provinz, gefunden. Gehetzt, verletzt, nackt liegt die auffallend schöne Frau (Birgit Keil) im Wald…

Autor Révay spart in seiner gedankenschweren Abhandlung nicht mit Querverweisen und Symbolen. So erzählt er in einer Parallelhandlung die tragische Geschichte der jungen Dorothy (beeindruckend: Dorothea Baltzer), die als Tochter des gottesfürchtigen Reverend Sullivan (Günther Seywirth) eine gegenläufige Entwicklung durchmacht: Während Sylva in ihrem Menschwerdungsprozeß das Tal der Tränen durchläuft und sich dank einer rudimentär funktionierenden Sprache immer differenzierter mitteilen kann, verfällt Dorothy zunehmend in Apathie und betäubt ihren Schmerz über ein verpfuschtes Leben mit Drogen…

Glücklicherweise hat Edith Koerber das Regie-Ruder in die Hand genommen und mit der Welt-Ballerine Birgit Keil nicht nur eine ungemein körperlich agierende ›Füchsin‹, sondern auch eine exzellente Schauspielerin gefunden, die sich nahtlos in das hohe Niveau des tri-bühnen-Ensemble einfügt. So gewinnt der Abend trotz seines philosophischen Anspruchs zeitweise eine frappierende Leichtigkeit, die nicht zuletzt den komödiantischen Leistungen Achim Grauers, Günther Seywirths und Marcus Michalskis zu verdanken ist.«

Hanna Mainzer